Frau Engel


Neulich im Spätdienst… Es war kurz vor Weihnachten und meine Kollegin und ich halfen mal wieder auf einer befreundeten Wache aus.
In den Abendstunden erhielten wir plötzlich den Einsatz, zu einer Frau zu fahren, der man soeben die Handtasche gestohlen hatte.
Der Tag war schon die ganze Zeit extrem nebelig gewesen und jetzt in der Dunkelheit war die Sicht doch arg eingeschränkt. Trotzdem sollten wir auf der Anfahrt auf den flüchtenden Täter achten, den wir vermutlich nur dann gesehen hätten, wenn er uns direkt vor den Streifenwagen gelaufen wäre.
Am Einsatzort trafen wir dann zunächst nur den Anrufer an, der den Vorfall selber gar nicht mitbekommen hatte. Er hatte nur als Nachbar der Arztpraxis, vor der der Diebstahl geschah, die Hilferufe der Frau gehört und war sofort zu ihr geeilt. Leider konnte er sonst nichts zum Sachverhalt beitragen.
Die Bestohlene weilte inzwischen in der Arztpraxis und harrte auf unser Eintreffen.
Als wir die Praxis betraten, erkannten wir sofort um wen es sich handeln musste. Die alte Frau saß im Wartebereich gegenüber des Tresens und wurde von einer der jungen Arzthelferinnen betreut.
Das Opfer ich nenne sie von nun an Frau Engel, denn dieser Name erscheint mir passend war sehr aufgeregt und bedurfte dringend der Betreuung.
Das freundliche Personal stellte uns sofort einen der Behandlungsräume zur Verfügung und wir stützten Frau Engel, als wir uns in den Raum zurückzogen. Eine der Arzthelferinnen brachte ihr noch ein Beruhigungsmittel und ein Glas Wasser, bevor wir mit der dringend notwendigen Befragung begannen.
Langsam beruhigte sich Frau Engel etwas und begann zu erzählen:
Frau Engel ist 83 Jahre alt, leidet seit Jahren unter Parkinson, Narkolepsie, einer Herzschwäche und laboriert noch mit den Folgen eines Hüftbruches herum. Dadurch ist ihre Gehfähigkeit sehr stark eingeschränkt und sie ist auf ihren Elektroscooter angewiesen, um im täglichen Leben noch mobil zu sein.
Um sich die Treppe zur Praxis ihrer behandelnden Ärztin zu ersparen, fährt Frau Engels regelmäßig mit ihrem Scooter direkt vor den Hauseingang und wartet dort, bis ein anderer Besucher oder Bewohner des Hauses in der Praxis ihr Warten vor der Tür kundtut. Die Angestellten kennen das Prozedere gut und bringen dann das vorher bestellte Rezept vor die Tür, oder helfen Frau Engel in die Praxis.
Heute war sie gerade vor der Tür angekommen, nachdem sie bei ihrer in der Nähe gelegenen Bank Geld am Automaten geholt hatte, als sich ihr ein fremder, junger Mann näherte. Frau Engel hatte ihre Handtasche sorgsam in einer großen Einkaufstasche aus Kunststoff verborgen, die an der linken Armlehne ihres Scooters hing. Der Täter konnte die Handtasche also nicht zufällig bemerkt haben, war ihr also vermutlich schon von der Bank aus gefolgt. Er beugte sich nun genau an dieser Stelle über Frau Engel und sah sie direkt an. Frau Engel war dies äußerst unangenehm und das sagte sie dem Täter auch. Da verschwand dieser aber auch schon eilig und Frau Engel konnte gerade noch erkennen, dass er ihre Handtasche in der Hand hielt und um die nächste Ecke verschwand.
Sofort rief sie um Hilfe, was den eben erwähnten Nachbarn auf den Plan rief. Leider war der Unhold schon im dichten Nebel verschwunden, sodass der Helfer die Verfolgung nach wenigen Schritten abbrach.
Frau Engel hatte sich inzwischen etwas beruhigt, wohl auch als Resultat aus dem Medikament. Sie saß mir klein und ängstlich aber doch irgendwie würdevoll gegenüber. Leider konnte sie uns zur Beschreibung des Täters nicht viel Neues erzählen und ich gab das wenige, was wir erfuhren sofort an die Leitstelle weiter.
Natürlich hatte die alte Dame viele wichtige Dinge in ihrer Tasche gehabt. Dazu gehörte glücklicherweise aber nicht ihr Hausschlüssel. Da aber das Sperren von EC-Karten sowohl langwierig als auch kompliziert ist und zu allem Überfluss auch noch Unterschriften auf Formularen erfordert, die wir leider nicht dabei hatten, schlugen wir Frau Engel vor, sie mit zur Wache zu nehmen und später nach Hause zu bringen.
Die alte Dame hatte aber nun Angst, ihr elektrisches Gefährt alleine am Orte des Verbrechens zurückzulassen. Sie bat uns, doch selbständig ihre Wohnung aufsuchen zu dürfen. Wir könnten sie dann ja dort abholen. Da ihr Domizil in unmittelbarer Nähe zum Tatort lag, war dies ein Gefallen, den wir ihr nur allzu gern tun wollten.
Da wir durch den Straßenverkehr aufgehalten wurden, trafen wir sogar erst kurz nach Frau Engel an ihrer Adresse ein. Sie parkte ihren Scooter sorgfältig ein und holte dann zu unserem Entsetzen ihren Hausschlüssel aus einem Versteck vor dem Haus! Während wir noch die Hände über dem Kopf zusammenschlugen, erklärte sie uns etwas verlegen, dass sie nur zwei Schlüssel besitze und einer bei ihrem Pflegedienst sei, damit dieser morgens, wenn er vorbeikomme, auch in die Wohnung könne. Nun habe sie aber auch eine Haushaltshilfe, die zu unterschiedlichen Zeiten erscheine. Damit diese in ihrer Abwesenheit nicht vor verschlossener Tür stehe, habe man sich auf dieses Versteck geeinigt. Einen weiteren Schlüssel nachmachen zulassen, ist für Frau Engel nicht bezahlbar.
Während die Gute ihre Bankunterlagen zusammensuchte, plauderten wir etwas über ihre Verhältnisse. Sie war im Arbeitsleben Apothekerin gewesen und hat bis ins hohe Alter von über 70 Jahren noch gearbeitet. Trotzdem ist aus dieser langen Beschäftigung nur eine recht bescheidene Rente entstanden. Von dieser kann sie sich gerade noch die kleine Wohnung leisten und Lebensmittel kaufen. Durch ihre Erkrankungen hat sie bereits eine Pflegestufe, die aber komplett von dem Pflegedienst verschlungen wird, der morgens für ein paar Minuten bei der Körperpflege und Medikamenteneinnahme hilft. Außerdem wird davon auch noch der Hausnotruf, der im Flur steht, bezahlt.
Mit den benötigten Papieren im Gepäck fuhren wir nun zur Wache. Während der Fahrt fragte ich Frau Engel, ob sie sich nicht schon einmal überlegt habe, sich selbst ein schönes Pflegeheim zu suchen. Ich fand den Gedanken, die alte Frau sei ständig alleine mit ihren Gebrechen, gelinde gesagt unangenehm. Besonders, weil sie mir erzählt hatte, dass sie häufiger bei alltäglichen Verrichtungen besinnungslos werde und sich bei den daraus resultierenden Stürzen auch schon häufig verletzt habe.
Frau Engel erwiderte auf die Frage nach dem Heim nur, dass sie sich dies in keinem Falle leisten könne. Außerdem wolle sie auch niemandem zu Last fallen. Da wir in diesem Moment bei der Wache eintrafen, ließ ich diese Antwort erstmal so stehen.
In der Wache hatten wir dann mit dem schon erwähnten Papierkrieg zu kämpfen. Außerdem übernahm ich die Telefonate, die zur Sperrung der Debit-Karten nötig waren. Einer der beiden Anrufe lief über ein automatisches Telefon-Service-System und verlief gänzlich ohne menschlichen Kontakt. Selbst ich hatte so meine Probleme mit den Tücken dieser Technik sodass Frau Engel vermutlich daran verzweifelt wäre.
Die alte Dame hatte sich inzwischen vollkommen beruhigt, immerhin hatten wir für sie auch noch etwas Schokolade aufgetrieben, um ihren Blutzuckerhaushalt in Schwung zu bringen.
Frau Engel beharrte darauf, dass sie keine weiteren Hilfen von Ämtern und Behörden in Anspruch nehmen wolle, um ihre allgemeine Lebenssituation zu verbessern. Sie stand auf dem Standpunkt, dass es sicherlich Menschen gebe, denen es noch schlechter erging als ihr und die dringender der öffentlichen Hilfe bedurften.
Frau Engel, das ehrt Sie ungemein. Aber bedenken Sie dabei doch bitte, dass sie sehr lange gearbeitet haben und einfach einen Anspruch auf gewisse Leistungen haben. Ich garantiere Ihnen, dass niemand weniger Hilfe bekommt, nur weil sie auch etwas davon in Anspruch nehmen!.
Doch Frau Engel ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie hatte ihr Leben lang hart gearbeitet und war nun wohl auch zu stolz, um die Unterstützung abzurufen, die sie sich mit ihrer Arbeit verdient hatte.
Nachdem wir den Amtsschimmel geritten hatten, brachten wir die gute Frau wie versprochen nach Hause. Wir rieten ihr nochmals eindringlich, eine andere Lösung für ihren Schlüssel zu finden und wünschten ihr alles Gute und ein frohes Fest. Sie versicherte uns im Gegenzug, dass sie mit ihrem Vermieter sprechen wolle und dass sie uns sehr dankbar für unsere Bemühungen sei.

Einige Zeit später, als dieser Einsatz bei mir schon in Vergessenheit geraten war, erschien ich zum Dienst in meiner Wache, wo eine Überraschung auf mich wartete.
Frau Engel hatte es sich nicht nehmen lassen, der Kollegin und mir eine prallgefüllte Weihnachtstüte mit allerlei Leckereien zukommen zu lassen. Dabei handelte es sich keinesfalls um Süßigkeiten vom Discounter, weswegen diese Aufmerksamkeit auch nicht billig gewesen sein konnte.
Diese alte Frau, die durch Krankheiten gebeutelt, bestohlen und zu stolz für die Annahme von Hilfe war, hatte nun auch noch ihre durch den Diebstahl arg strapazierten Finanzen für uns weiter dezimiert! Ich musste tatsächlich schwer schlucken, als mir mein Dienstgruppenleiter das Geschenk zeigte.
Zu allem Überfluss wusste Frau Engel bestimmt auch nichts von den strengen Bestimmungen, die in Bezug auf die Annahme von Geschenken für Beamte gelten. Durch ihre Großzügigkeit, hatte ihr Geschenk einen Wert jenseits der geltenden Grenzen.
Also nahm meine Kollegin, als sie ein paar Tage später als Fahrerin des Dienstgruppenleiters eingeteilt war diesen und das Geschenk bei der Hand und brachte es in eines der Kinderheime in der Stadt.
So hatten die Kinder dort wenigstens etwas Freude zu Weihnachten und wir kein schlechtes Gewissen. Denn eines ist klar: Frau Engel hätte diese Lösung bestimmt auch gefallen.

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